
Wohin gehen wir? Immer nach Hause. Novalis. Blütenstaub Fragmente. 1798.
Zuhause. Das ist für Menschen, die mit Trauma leben, der Ort der größten Sehnsucht. Ein schöner und doch unerreichbarer Wunschtraum. Billy Bob Thornton spricht es stellvertretend in einem berührenden Interview aus: „My brother died. I never trusted happiness since.“ Und sein einziger Rat, wie mit dem Trauma dieses Verlusts umzugehen ist, lautet: „You never get over it. You have to embrace that“. (Quelle: https://youtu.be/4Pn3y7S5FAw?si=g8xAZ6tIJ0xG8UM8)
Wer mit Trauma lebt, spürt eines tief im Inneren sehr deutlich: etwas ist unwiederbringlich verloren und das führt dazu, sich allein zu fühlen, Un-zuhause. Ich gehöre nicht dazu, ich habe keinen Platz, ist das existenzielle Grundgefühl der Traumatisierten. Auch wenn wir es uns nicht anmerken lassen, wenn es uns gelingt, eine notdürftige Unterkunft in geborgten Familien- und Arbeitsverhältnissen zu basteln, wir spüren es immer: da bleibt eine dumpfe Bedrohung, eine ständige Angst wieder ausgesetzt zu werden. Manche finden einen Umgang mit dieser Angst, indem sie sich immer wieder in ausgesetzte Situationen bringen, um sich selbst zu beweisen, dass die Angst in der Furcht beherrschbar wird. Das kann im Extremsport sein, auf der Bühne oder in Beziehungen. „Face your fears“ kann genau das Gegenteil davon bedeuten was es besagt: um mich dem Trauma an der Wurzel meiner Existenz nicht zu stellen, fliehe ich in bedrohliche Situationen, um diese zu meistern und das Gefühl der Kontrolle zu behalten.
Trauma vereinzelt. Trauma zeigt sich im Innersten durch das Gefühl, kein Zuhause zu haben, nicht dazu zu gehören, nie wirklich anzukommen. Wie Novalis sagt, steuert dieses Gefühl im Hintergrund ein Leben auf der Suche nach einer inneren Heimat, nach Liebe und Geborgenheit. Wem diese innere Dynamik verborgen bleibt, wird wahrscheinlich dennoch Stationen in seinem Leben erfahren, die sich nach „angekommen sein“ anfühlen, aber immer dann, wenn diese Tür sich wieder schließt, das „Du“ sich entzieht, schlägt der Schmerz des Traumas am Unerbittlichsten zu. Wieder allein. Wieder ent-täuscht. Wieder draußen. Der Schmerz der Einsamkeit beißt wie ein hungriger Tiger in die Eingeweide.
Was also tun? Wie umgehen mit dieser Sehnsucht? Zunächst müssen wir verstehen was da passiert und wir müssen reden. Wir müssen uns der Frage stellen, was es bedeutet immer auf dem Weg zu sein, stets auf Herbergsuche. Eines muss man dazu wissen: es beginnt mit einem Zuhause. Wir sind nicht, wie Heidegger meinte, „ins Dasein geworfen“. Das kommt später. Das ist der Stachel des Traumas. Ganz zu Beginn sind wir nicht geworfen, sondern umfangen, ins Fleisch des Lebens fraglos eingewoben.
„Wir leben, als ineinander Verschränkte, im Lande Wir“. So schreibt es Peter Sloterdijk in seiner unnachahmlich poetischen Art (Sphären. Band 1). Er bringt damit ein zentrales Element der existenziellen Anthropologie auf den Punkt, dass es nämlich unmöglich ist, als Inselbewusstsein zu existieren. Bewusstsein ist immer Co-Bewusstsein. Welt ist immer geteilte Welt. Kein Mensch kommt ohne andere Menschen zur Welt oder könnte sich auch nur kurze Zeit in ihr halten. Die Welt, wie wir sie erleben – bei allen ideologischen Differenzen – ist eine Welt die wir alle in einem gemeinsamen Bewusstsein erschaffen. Das ist die große Einsicht Immanuel Kants, die sich in der modernen Quantentheorie wiederum zeigt: Raum und Zeit, die fundamentalen Kriterien unserer Weltwahrnehmung, entziehen sich der Fassbarkeit, weil sie die geteilte Brille sind, durch die wir überhaupt so etwas wie „Welt“ wahrnehmen.
Die neuere Phänomenologie hat den Blick auf diese Erkenntnis noch weiter verschärft und den Fokus darauf gelegt, dass wir auf der Suche nach unserem Zuhause zumeist das Nächstliegende überspringen. Die Welt ist für uns nur in Ausnahmefällen die Welt Immanuel Kants, also intellektuell bewusst, aber sie ist uns in der Regel vertraut. Wir kennen uns hier aus, wir wissen was zu tun ist und wie die Dinge zu verwenden sind. Wir wachsen leiblich vertraut in eine Welt hinein in der wir mit dem Zeug das uns umgibt selbstverständlich umzugehen wissen. Von der Rassel bis zur Rakete, wir verstehen womit wir es zu tun haben und zumeist leben wir in unbewusster Symbiose mit dem Zeug das uns umgibt. Diese Symbiose ist unser Zuhause, unser zweites Zuhause, nach dem Verlust der gebärmütterlichen ersten Heimat. Aber so wie wir das erste Zuhause verlieren müssen, so verlieren wir auch das zweite Zuhause durch die Erfahrung von Trauma. Wir nennen die Geburt aus dem Schoß unserer Mütter traumatisch, weil Trauma im Kern die existenziell erschütternde Erfahrung des Verlusts von Zuhause bedeutet. Trauma ist keine psychische Verletzung, sondern der Verlust des Ortes an dem wir vorkommen können als die, die wir sind. Trauma ist der Verlust der vertrauten Welt, mit der wir in unbewusster Symbiose gelebt haben.
Bei der Geburt erfahren wir erstmals dieses Trauma und sind fortan angewiesen auf ein zweites Zuhause, ohne das wir tatsächlich, real und nicht nur metaphorisch sehr schnell sterben. Und so wachsen wir – wenn es das Schicksal gut mit uns meint – in ein zweites Zuhause hinein. Ein Zuhause, in dem Wärme, Nahrung und liebevolles Gehaltensein keine konstanten Größen mehr sind, uns aber hoffentlich in ausreichendem Maße immer wieder gegeben werden. So entsteht Sicherheit und Vertrauen; ein zweites Zuhause, das wir zunehmend auch aktiv gestalten und nach unseren Bedürfnissen einrichten. Wie atmosphärische Innenarchitekten schaffen wir unsere Sphäre, und verbringen den Rest unserer Tage damit, diese Blase dicht zu halten. Diese „Blase“, die wir brauchen um zu existieren, hat hier nicht die politisch- pragmatische Bedeutung, die aktuell im Zusammenhang mit social media und gezielter Manipulation diskutiert wird. Sie hat vielmehr eine tiefere ontologische Bedeutung: diese Blase oder Sphäre wie Sloterdijk das Phänomen hellsichtig genannt hat, ist unsere gefühlte Welt. Eine gefühlte stimmige Relation der Dinge und Menschen um uns, die wir z.B. auch in Aufstellungen sichtbar machen können. Solange die Gefühlsbeziehungen innerhalb dieser Sphäre stimmen, solange fühlen wir kein Un-zuhause, keine Heimatlosigkeit. Der systemische Theoriehorizont hat hier seine Einsicht und seine Wirkung: wir leben in den Systemen, die wir autopoietisch ständig mit erschaffen. Wo dies gelingt, lässt es sich leben. Aber diese Idylle ist ständig bedroht. Wo diese Bedrohung Realität wird, heißt sie Trauma. Die Blase platzt.
Was dann passiert, hat vielleicht keiner eindringlicher demonstriert wie der erste und vielleicht einsamste Traumanaut: Friedrich Nietzsche. Wenn die Blase implodiert, wartet „der Unheimlichste aller Gäste“: Nihil, das Nichts. Ohne lebensspendende Sphäre wird aus einem bloß fern drohendem „Nichts“ eine tatsächliche traumatische Vernichtung. Außerhalb der Sphäre lauert „Nichts“, und sein traumatisierender Einfall raubt den Sinn und lässt im Extremfall sogar die Tötung des Selbst als tröstenden Ausweg erscheinen. Die Blase schützt vor dem Nichts. Das ist ihr Sinn. Es liegt keine ewige Wahrheit im Glauben an den einen oder den anderen Gott, an das eine oder andere System; die Wahrheit liegt darin, dass wir Systeme, Blasen, Sphären brauchen, um überhaupt einen Ort zu haben an dem wir leben können.
Trauma zerstört diese Ordnung. Trauma vereinzelt. Das zweite Zuhause ist ein künstlich Erschaffenes. Es ruht auf Nichts, seine Fundamente fehlen. Wer dieses Zuhause verloren hat, findet es dort nicht wieder. Das ist die Basis der Philosophie der Existenz. Karl Jaspers schreibt davon, dass wir Halt im Haltlosen finden müssen. (Philosophie Band 2), Sören Kierkegaard notiert in seinen Tagebüchern den berühmten Satz: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden (Journal A. Nr. 165).
Und schließlich der Philosoph der Heimatlosigkeit par excellence: Martin Heidegger. Seine gesamte Schrift „Sein und Zeit“ ist die Explikation eines Daseins, das aus Angst vor dem Trauma (dem Nichts) in den Alltag flieht. Heidegger ist der Philosoph der Un-heimlichkeit im buchstäblichen Sinn. Diese Flucht vor dem Trauma kann sich mit dem Aufgehen im Alltag bescheiden, in der Selbstvergessenheit des „Man“, sie kann aber auch zu destruktiven Formen der Abwehr führen, zu Narzissmus, Fundamentalismus und anderen potenziell schädlichen Versuchen, die eigene Sphäre um jeden Preis abzudichten. Diese Versuche innere Heimat zu erzwingen, indem ich das traumatisierende Element auf ein Gegenüber projiziere, ist die Ursache tausendfachen Leids.
Ich habe an anderem Ort geschrieben: Der Weg aus dem Trauma führt tiefer hinein. Wer der leidbringenden Projektion entgehen will, wird sich den eigenen Dämonen stellen müssen. Und damit kommen wir abschließend zu der Frage: Wie umgehen mit dem Verlust des Zuhause?
Wer bereit ist, sich dem Trauma zu stellen und darüber zu sprechen, hat eine Chance: die Chance auf den Pfad der existenziellen Pilger. Dieser Pfad wird oft der spirituelle Pfad genannt. Es ist die Bereitschaft den eigenen Weg zu gehen, im Bewusstsein, dass wir nie ankommen. „Triffst du Buddha unterwegs, töte Buddha“. So ein berühmtes Zen Zitat, dass ich Sheldon B. Kopp verdanke. Denn auch dieser Pfad ist kein Zuhause; er bleibt Aufgabe. Die Zuflucht in spirituelle Sektiererei ist nur eine weitere Falle auf dem Weg zur existenziellen Liebe. Es stimmt schon: wir brauchen, um diesen Pfad gehen zu können, die Begegnung mit einem Wegbegleiter, aber es muss klar sein: auch dieser Mensch ist nur ein Pilger und was wir einander schenken können, ist Liebe im Angesicht der Vergänglichkeit. Trauma ist unheilbar. Es gibt keine Methoden, die Trauma heilen und die geballte Literatur zur Selbsthilfe und Selbstliebe, führt uns nur immer tiefer in die Irre und die Einsamkeit. Wir können uns nicht selbst retten. Wir brauchen einen Ort, ein Gegenüber, bei dem wir vorkommen können als die, die wir sind. Traumatransformation ist möglich, aber nicht durch den Einsatz definierter Methoden, sondern durch liebevolle Annahme in der existenziell verstandenen Sym-Pathie. Wie Buber es formuliert hat, durch die Ansprache im Grundwort Ich-Du. Es sind diese Begegnungen, diese Momente in denen wir einander erkennen, in denen wir einander berühren, die uns den Mut geben, den Weg weiter zu gehen, weiter zu lieben, dem Nichts zu trotzen. Trauma wird nicht geheilt, aber wenn es – wenn auch nur für einen Augenblick – geteilt wird, wird es lebbar. Der Ort an dem wir dann vorkommen, ist die Gemeinschaft der existenziellen Pilger.
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